Vom Welsberg kam der Turmfalke Antonius geflogen, setzte sich auf einen Ast, und noch bevor er etwas sagen konnte, meinte Rhabanus zu ihm:
„Antonius, bleib lieber in der Luft, scheinbar hat ein Erdbeben begonnen.
„Von wegen Erdbeben, der Riese Kilian!“, zwitscherte der Turmfalke. „Er ist, warum auch immer, aus dem Isergebirge gekommen und hat sich gerade auf die Wiese bei Pankratz gelegt. Deshalb hat es so gedröhnt. Er hat alles Wild in der Umgebung aufgescheucht und die Menschen aus dem Dorf sind aus Angst vor ihm tief in den Wald geflohen!“
„Ein Riese sollte sich im Gebirge aufhalten. Dort kann er keinen großen Schaden anrichten. Aber was macht er hier? Ich werde ihm ins Gewissen reden, dass er keine Dummheiten macht und nach Hause zurückkehrt“, sagte Rhabanus und machte sich auf den Weg nach Pankratz.
An den Oberwegsteinen hielt er an und lauschte. Nicht weit entfernt hörte er Kindergeschrei:
„Hiiiilfe! Rette sich, wer kann! Ein Riese!“
Er ging ein Stück hinab und sah am Hang des Welsberges eine Gruppe von Kindern aus dem Dörfchen Pass auf ihn zulaufen. Die Kinder waren für ihre Mütter duftende Maiglöckchen pflücken gegangen, die im Tal hinter dem Berg zu blühen begonnen hatten.
„Dass der Riese eine Wildschweinrotte aufscheucht, gefällt mir zwar nicht, ist aber noch zu verzeihen. Aber kleine Kinder zu erschrecken, das geht zu weit!“, sagte Rhabanus und lenkte seine Schritte in Richtung Ziegenrücken. Von den felsigen Gipfeln bog er nach rechts ab, bis er zu den großen runden Weißen Steinen kam. Er kletterte auf den höchsten von ihnen, von wo er eine schöne Aussicht über die Wiese mit dem Riesen bis zum Dörfchen Pass hatte.
„Was treibst du denn da?!“, rief er dem Riesen zu. „Wenn du schon einen Ausflug machst, dann tritt wenigstens vorsichtig auf! Bei jedem deiner Schritte wackeln ja alle Felsen im Lausitzer Gebirge! Kehr lieber nach Hause zurück!“
Der Riese Kilian schaute Rhabanus an und sprach mit donnernder Stimme:
„Ich gehe nirgendwohin. Mir gefällt es hier. Und die Kieselsteine, auf denen du stehst, gefallen mir am besten. Sie sind hübsch rund. Ich werde mit ihnen Murmeln spielen.“ Er stand auf, bohrte seine Ferse in die Mitte der Wiese und dreht sich dreimal auf ihr um, um ein Grübchen zu machen. Im Gras entstand dadurch eine Grube, in die selbst ein Pferd mit angespanntem Leiterwagen fallen würde.
„Sieh doch, was du anstellst! Wie soll der Bauer Eichenwald jetzt Heu mähen, wo du ihm auf seiner Wiese solch eine Grube gegraben hast“, sagte Rhabanus mit etwas versöhnlicherem Ton, denn er wusste, dass das, was für uns Menschen wie eine riesige Grube aussieht, in den Augen eines Riesen nur ein kleines Grübchen ist. „Und noch dazu geht es hier bergab. Wenn du einen Stein bewegst, rollt er zum Dorf hinunter und zerstört dort alle Häuser!“
„Er wird nicht zum Dorf rollen, wenn ich das Grübchen treffe!“, donnerte Kilian und hockte sich schon zum Murmeln hin.
„Und wenn du es nicht triffst?“, fragte ihn Rhabanus.
„Wenn man das nicht ausprobiert, wird man es nicht erfahren“, tat ihn der Riese ab.
Das war übel. Jetzt war guter Rat teuer. Plötzlich ging ein Wind von den Felsen und blies Rhabanus den bekannten Duft von Frühlingshonig in die Nase. Seine Augen leuchteten auf und er pfiff nach dem Turmfalken, der alles aus sicherer Höhe beobachtet hatte. Antonius segelte vorsichtig hinab, so dass ihn der Riese nicht bemerkte, und setzte sich auf Rhabanus’ Schulter. Dieser flüsterte ihm etwas zu und der Turmfalke schwang sich wieder in die Lüfte und flog in Richtung Pfaffenstein davon. Rhabanus waren die Wildbienen eingefallen, die in einer Baumhöhle der alten Tobiaskiefer ihren Bau hatten. Sie gaben ihm nämlich regelmäßig Honig für den Konditor Karamell, der in Grottau auf dem Marktplatz seine Konditorei hatte. Dieser buk aus dem Honig dann Lebkuchen, der in der breiten Umgebung für seinen Duft und seine Süße berühmt war. Er wurde auf den Jahrmärkten in allen Städten von Warnsdorf bis hin nach Reichenberg verkauft. Karamell war froh, dass sein Geschäft so gut lief, und konnte den Honig von der Tobiaskiefer gar nicht genug loben. Rhabanus kümmerte sich um die Wildbienen ja auch wie um einen wertvollen Schatz. Er wusste, dass Bienenstiche das Einzige waren, was den Riesen in Bewegung versetzen könnte.
Letzterer kniete sich inzwischen mit dem linken Knie bequem in den weichen Sand und vermaß mit dem rechten Auge die Richtung, in die er den ersten der Weißen Steine zum Grübchen schnippen würde. Es schien schon, dass ihn keiner mehr daran hindern würde, als es über den Ziegenrücken auf einmal anfing zu summen wie im Schloss-Bienenstock. Ein Bienenschwarm näherte sich von der Tobiaskiefer wie eine Gewitterwolke, und als sich der Riese Daumen und Zeigefinger anfeuchtete, um gut schnippen zu können, flog er ihm unter das Hemd.
„Au, au, au! Potz Blitz, was sticht mich da so fürchterlich?!“, schrie der Riese auf, jetzt aber schon nicht mehr mit donnernder Stimme. Er stand auf und begann, von einem Bein aufs andere zu hüpfen, um dieses Teufelszeug aus seinem Hemd zu verscheuchen. Als er begriff, dass ihm dies nicht gelingen würde, vergaß er das Murmelspiel und Rhabanus und lief in Richtung Weißkirchen den Berg hinab, um diesem schrecklichen Martyrium zu entkommen. Bei jedem seiner Schritte bebten die Dachstühle mitsamt Strohdächern auf den Häusern in Pankratz. Im Tal überquerte er mit einem Schritt die Neiße und hastete, so schnell er konnte, den Hang zwischen Weißkirchen und Kratzau hinauf. Hinter Wittig verschwand er Rhabanus aus der Sicht. Nur der Boden unter den Füßen dröhnte noch leicht von seinen Riesenschritten. Als das Dröhnen nachließ, kehrte der Bienenschwarm zurück, und zum Zeichen, dass er seine Aufgabe restlos erfüllt hatte, umkreiste er zweimal Rhabanus’ Kopf. Danach stieg der Schwarm langsam in die Höhe und verschwand hinter dem Wald.
„Ich denke, den Riesen Kilian werden wir hier nie wiedersehen. So ein Bienenstich ist manchmal schlimmer als ein Bärenbiss“, lachte Rhabanus und beobachtete über die Wiese hinweg zufrieden, wie die Menschen aus dem Wald nach Pankratz zurückkehrten. Als er durch den Wald zu den Rabensteinen zurückging, ertönte von überall so lustiges Vogelgezwitscher, dass Rhabanus begann, im Schritt mitzupfeifen. Plötzlich knurrte sein Magen und ihm fiel ein, dass er heute noch nicht gefrühstückt hatte.
„Irgendwie hat mich dieser Riese hungrig gemacht“, sprach er zu sich. „Was könnte ich nur frühstücken? Ich hab’s! Natürlich Brot mit Honig von der Tobiaskiefer!“