„Ruft den Förster zu mir!“, befahl eines Tages der Graf.
Rhabanus zog zu dieser Zeit gerade durch sein Revier und schaute, was noch zu verbessern wäre. Er hielt einen Notizblock in der Hand und trug einen Bleistift hinter seinem Ohr. Immer wieder hielt er an, um sich Notizen zu machen.
„Futterkrippe bei den achtzig Eichen reparieren, Unterholz um den Wenzelsbach ausschneiden, damit Sonne aufs Wasser gelangt, vertrocknete Fichte an den Gallas-Teichen fällen...“ Plötzlich hörte er, wie der Trompeter vom Schlossturm mit seiner Trompete die Untertanen auf den Schlosshof rief.
„Das verheißt nichts Gutes“, dachte Rhabanus bei sich, schulterte seine Flinte und machte sich auf den Weg zum Schloss. Mitten auf dem Schlosshof stand der Schloss-Schreiber, tat so, als gehöre ihm das ganze Lausitzer Gebirge, und schrie, bis sein gezwirbelter Schnurrbart geradestand:
„Es wird bekannt gegeben, dass der Herr Graf am Sonntag Geburtstag feiert. Den Untertanen wird an diesem Festtag auferlegt, dieses Jubiläum mit Arbeit und großer Anstrengung für das Wohl der gräflichen Kasse zu feiern! Da viele bedeutende Persönlichkeiten aus Nah und Fern zu der Feier kommen werden, wird den Untertanen des Weiteren angeordnet, an diesem Tag freudig und optimistisch dreinzuschauen, bei der Arbeit lustige Lieder zu singen und zu jeder vollen Stunde Dreimal hoch Euer gräflichen Gnaden zu rufen! Wer den Befehl des Grafen nicht befolgt, wird strengstens bestraft!“
Keiner war darüber sehr erfreut, denn alle wussten, dass ihnen während des Festes nichts Gutes bevorstünde. Rhabanus stand auf dem Hof und unterhielt sich mit dem Bauern Garbe.
„Was für eine Freude“, sagte Garbe. „Als letztens gefeiert wurde, wurde mein Gehöft so durchlüftet, dass mir nicht ein einziges Säckchen Mehl übrigblieb, und alle Ferkel wurden zum Festmahl gebracht!“
Rhabanus nickte zum Zeichen, dass er verstand. In dem Moment wurde im ersten Geschoss ein Fenster aufgerissen, Graf Feuerschlag schaute heraus und kreischte:
„Rhabanus, sofort zu mir! Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen!“
Rhabanus stand da, wie vom Donner gerührt. Er ahnte, dass seinem Revier Unheil drohte, aber was konnte er tun.
Als er das Gemach des Grafen betrat, saß Feuerschlag dort in seinem Sessel, wackelte mit den Beinen und diktierte seinem Schreiber, der inzwischen vom Schlosshof zurückgekehrt war, einen Text.
„Förster, ich habe dich persönlich gerufen, weil ich eine wichtige Aufgabe für dich habe. Im Zuge der Festlichkeiten anlässlich meines Geburtstages wird es nämlich eine Jagd geben. Aus dem erlegten Wild werden die Köche anschließend ein Festmahl für meine Gäste zubereiten.“
„Aber es ist doch März! Jedes kleine Kind weiß, dass Wild im März nicht erlegt werden darf!“, wandte Rhabanus ein.
„März oder November, das ist mir gleich, es wird eine Jagd geben! Und weil ich den Landrat höchstpersönlich eingeladen habe, werde ich ihm eine kleine Überraschung vorbereiten. Der Höhepunkt der Jagd wird der weiße Hirsch mit zwölf Enden sein, und der Landrat selbst wird ihn erlegen. Solch eine Trophäe hat nicht einmal der Kaiser!“
„Aber der Hirsch Kalkkrone ist das Symbol der hiesigen Wälder. Selbst Eure gnädige Urgroßmutter hatte ihn bereits in ihrem Wappen. Solch eine Rarität nur wegen des Geweihs zu erlegen, das könnt Ihr doch nicht ernst meinen!“
„Und ob ich das kann! Und du wirst alles einrichten. Und sollte am Sonntag um drei Uhr nachmittags nicht der weiße Hirsch aus dem Dickicht auf die Wiese vor den Hochsitz treten, enthebe ich dich deines Amtes und du kommst an den Bettelstab!“, drohte der Graf und schickte Rhabanus fort, denn er gedachte nicht länger mit ihm zu sprechen.
Rhabanus ging nach Hause, als hätte ihm ein Orkan das gesamte Revier zerstört, aber eines wusste er gewiss: wegen der Überheblichkeit des Grafen würde am Sonntag im Wald nicht ein einziger Schuss fallen!
Zu Hause am Forsthaus wartete bereits der Turmfalke Antonius auf ihn. Er saß auf einem Ast der hohen Fichte und zwitscherte:
„Lieber Rhabanus, du musst mir gar nichts erzählen, ich habe alles durch das offene Fenster mit angehört.“ Weil Antonius hoch in den Wolken segelte und das ganze Revier überblickte, wusste er stets über alles Bescheid, was vor sich ging. „Aber was wirst du nun tun? Wenn du den Befehl des Grafen nicht befolgst, wird dich Feuerschlag hinauswerfen und du wirst kein Dach mehr über dem Kopf haben!“
„Davor habe ich überhaupt keine Angst, Antonius. Auf den Rabensteinen befindet sich eine alte Klause, und du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich dem Wald lieber aus der alten Klause helfe, als ihm aus dem gräflichen Forsthaus zu schaden! Bitte flieg durch das ganze Revier und ruf alle Tiere zusammen. Sie sollen auf die Lichtung unter dem Pfaffenstein kommen. Morgen bei Tagesanbruch werden wir uns dort absprechen, was wir tun können“, bat Rhabanus den Turmfalken. Er setzte sich auf die Bank vor dem Forsthaus, zündete seine Pfeife an und dachte nach. Wie der Tabakqualm zum Himmel aufstieg, wurde ihm immer klarer, dass er spätestens am Sonntag auf die Rabensteine umziehen würde.
Die Vorbereitungen des Festes waren in vollem Gange und so hatte Rhabanus genug Zeit, um seine neue Behausung vorzubereiten. Vom Ofensetzer Rauch erhielt er einen neuwertigen Ofen mit Herdplatte, damit ihm nicht kalt würde und er sich etwas kochen könnte. Aus grob behauenen Brettern nagelte er sich einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett zusammen. Das polsterte er mit weichem Reisig aus. Als die Klause schon fast wohnlich war, setzte er sich vor sie auf einen Stein, und auf einmal verspürte er ein Gefühl von Zufriedenheit und begann sich richtig auf sein neues Zuhause zu freuen.
„Am Ende werde ich mich hier wohler fühlen, als im gräflichen Forsthaus. Ich werde nicht unsinnigen Befehlen Folge leisten müssen und hungern werde ich auch nicht. Der Wald wird mich ernähren. Ich habe ihn gern und er lässt mich bestimmt nicht im Stich“, brummte er zufrieden in seinen Bart und auf einmal bedauerte er richtig, dass er noch ins Forsthaus zurückkehren musste. Aber anders ging es nicht. Morgen war schon Sonntag und schließlich durfte er den Hirsch Kalkkrone nicht im Stich lassen.
Am Sonntag begann bereits am frühen Morgen ein mächtiger Wirrwarr auf und unter dem Schloss. Gäste reisten an. Graf Feuerschlag begrüßte sie festlich gekleidet im Schlosshof und sah aus, als würde im nicht nur die Grafschaft Grafenstein gehören, sondern gleich die ganze Weltkugel. Die Trompeter bliesen Fanfaren und die Menschen riefen jede Stunde Dreimal hoch Euer gräflichen Gnaden.
Als letzter geladener Gast traf niemand Geringeres als der Herr Landrat selbst ein. Er war noch nicht einmal aus der Kutsche herausgekrochen, als er schon nach dem weißen Hirsch mit zwölf Enden fragte. Graf Feuerschlag verneigte sich so tief, dass er sich beinahe das Kinn am Schlosspflaster aufschürfte, und versicherte dem Herrn Landrat:
„Keine Angst, verehrter Herr Rat. Alles ist zu Eurer größten Zufriedenheit vorbereitet. Nach einem kleinen Mahl werden wir uns zum Hochsitz auf der Waldlichtung begeben, wo der weiße Hirsch regelmäßig grast.“
„Das freut mich sehr, Herr Graf. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, bis ich die Trophäe in den Händen halte, um die man mich bis in Österreich beneiden wird!“, brüstete sich der Landrat. Und nachdem er das dritte Brathähnchen und das zwölfte Mohnküchlein gegessen und den fünften Krug Wein getrunken hatte, nahm er seine mit Perlmutt ausgelegte Flinte und sagte: „Nun wollen wir es nicht mehr aufschieben, ich kann es nicht mehr abwarten.“
Der Stallmeister brachte zwei gesattelte Pferde. Eins für den Grafen, das zweite für den Landrat. Als es den vier Dienern endlich gelungen war, die beiden Herren auf die Pferde zu hieven, machten sich diese auf den Weg zum Hochsitz. Den beiden Pferden sanken unter den aufgeblasenen Herren die Knie ein. Solch ein Gewicht hatten sie zuvor noch nie getragen.
Während auf dem Schloss überall Gewimmel herrschte und es summte wie in einem Bienenstock, machte sich auf einmal eine Totenstille um sie breit, als sie in den Wald kamen.
„Mich würde interessieren, wo all das Wild geblieben ist. Da hat bestimmt Förster Rhabanus seine Finger im Spiel!“, wetterte der Graf.
„Wenn Ihr mit Eurem Förster nicht zufrieden seid, dann jagt ihn davon. Ich schicke Euch den Förster Astmann. Das ist der beste Förster, den Ihr Euch wünschen könnt. Er versteht zwar nichts vom Wald, aber er erfüllt Euch jeden Wunsch“, bot der Rat dem Grafen an.
„Das wäre überaus nett von Euch, Herr Landrat. Seitdem Rhabanus Förster ist, konnte ich keinen einzigen Schweinebraten mehr genießen“, bedankte sich Graf Feuerschlag begeistert.
Als sie am Hochsitz ankamen, wartete Rhabanus bereits dort.
„Wo ist alles Wild?“, fauchte ihn der Graf an.
„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat es gespürt, dass ein Gewitter im Anzug ist, und sich versteckt“, sagte Rhabanus, auch wenn er sehr gut wusste, dass fast alle Tiere in einer Höhle am Fuße des Berges Zuflucht gesucht hatten, der nach dem weißen Hirsch Kalkberg genannt wurde. Oder war es umgekehrt und der Hirsch war nach dem Berg benannt worden? Das weiß keiner mehr genau und eigentlich ist es auch egal.
Graf Feuerschlag kletterte auf den Hochsitz. Das bereitete ihm große Probleme, die Leiter bog sich unter ihm durch und die Sprossen knackten gefährlich. Dennoch trug der Hochsitz schließlich ihn und den Landrat.
„Besonders bequem ist es hier aber nicht, Rhabanus!“, schimpfte Feuerschlag.
„Ich weiß, dass es sich aus dem Schlossfenster besser schießen würde, aber ich wage zu bezweifeln, dass der Hirsch auf den Schlosshof grasen käme!“, antwortete ihm Rhabanus.
Der Graf warf ihm einen bösen Blick zu und sagte zum Landrat:
„Für den neuen Förster werde ich Euch unendlich dankbar sein, gnädiger Herr Landrat.“
„Nicht der Rede wert. Hauptsache der Hirsch kommt schon, ich kann es einfach nicht mehr erwarten“, antwortete der Rat und blickte gierig auf die Lichtung unter dem Hochsitz.
„Wo zum Teufel ist der Hirsch, Rhabanus?“, wetterte Feuerschlag.
„Es ist noch nicht drei Uhr. Oder hat Eure gräfliche Gnaden etwa die Turmuhr der Weißen Kirche schlagen hören?“, antwortete Rhabanus spöttisch und konnte kaum noch erwarten, was jeden Augenblick geschehen sollte.
Unten im Tal schüttelte der Turmfalke Antonius, der auf der Kirchturmspitze direkt neben der vergoldeten Wetterfahne saß, sein Gefieder. Im Dickicht unter dem Hochsitz schnaufte es zum Zeichen, dass alles bereit sei, aber nur leise, damit der Graf und der Landrat nichts bemerkten. In dem Moment ertönte der Uhrschlag der Turmuhr. Als sie drei geschlagen hatte, tat sich das Dickicht am unteren Ende der Waldwiese auf, und hervor trat der majestätische weiße Hirsch Kalkkrone. Er blieb so stehen, dass er gut zu sehen war, und schaute zum Hochsitz, als wollte er sagen:
„Na, dann zeigt, was ihr könnt, ihr zwei Schützen.“
Als der Landrat den Hirsch erblickte, fuhr er zusammen, so dass er beinahe vergaß, warum er auf dem Hochsitz saß. Als er aus seinem Erstaunen erwachte, ergriff er die Flinte und nahm den Hirsch ins Visier. In demselben Augenblick drehte der Turmfalke Antonius mit seinem Flügel die Wetterfahne gegen die Sonne und der Lichtreflex blendete dem Landrat das Auge, mit dem er zielte.
„Schnell, Herr Rat, schießt doch, bevor es sich der verflixte Hirsch überlegt und wieder im Dickicht verschwindet!“, forderte Graf Feuerschlag den Rat auf.
„Würde ich ja gern, Herr Graf, aber ich kann gar nicht zielen. Irgendetwas blendet mich, so dass ich überhaupt nichts sehen kann!“
„Dann setzt Euch auf meinen Platz. Hier wirft ein Lärchenast Schatten“, bot der Graf dem Landrat an.
In dem Moment, als die beiden Herren gerade umständlich ihre Plätze tauschten, schnaufte es im Dickicht unter ihnen, dann grunzte es und Borstel, der größte Keiler im Forstrevier, kam hervor. Ruhigen Schrittes ging er zum Hochsitz, lehnte sich mit dem Rücken gegen ihn und begann sich zu kratzen. Dadurch geriet der Hochsitz mächtig ins Schwanken. Graf Feuerschlag, der sich gerade nirgendwo festhielt, verlor das Gleichgewicht, und als er herunterfiel, blieb er mit dem Schoß seines Jägermantels an einem Ast hängen. Der Landrat erschrak, denn einen solchen Keiler hatte er noch nie gesehen. Er ließ seine Flinte fallen. Als diese auf dem Boden aufschlug, löste sich ein Schuss, laut wie aus einer Kanone, und feuerte ihm den Hut vom Kopf. Der Landrat wusste nicht, wie ihm geschah. Krampfhaft hielt er sich am Geländer des Hochsitzes fest und brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Hol uns sofort hier runter, Rhabanus! Das wirst du büßen!“, kreischte Feuerschlag, wie er an seinem Rockschoß hängend am Ast baumelte.
Rhabanus schaute belustigt nach oben zu den beiden Fettwänsten und sprach:
„Soll Euch doch der neue Förster herunterholen. Ich habe meinen Dienst bei Euch bereits beendet.“
Der weiße Hirsch Kalkkrone trat näher an den Hochsitz heran, denn diesen Anblick wollte er sich nicht entgehen lassen.Rhabanus saß auf ihn auf wie auf ein Pferd und sagte zu ihm:
„Lass uns nach Hause gehen, Kalkkrone.“
„Na warte! Sobald du ins Forsthaus zurückkehrst, kannst du was erleben!“, kreischte der Graf vom Ast.
„Dort braucht Ihr nicht mehr auf mich zu warten, Herr Graf. Ich wohne bereits woanders“, lachte Rhabanus und ritt mit dem Hirsch zu den Rabensteinen.
„Kalkkrone, vergiss nicht, den Tieren auszurichten, dass sie wieder nach Hause zurückkehren können. Mir tut nur ein bisschen leid, dass ich nicht alles erfüllt habe, was ich versprochen hatte.“
„Wie das? Es ist schließlich alles gut ausgegangen und die zwei „Jäger“ werden das bis an ihr Lebensende nicht vergessen“, wunderte sich Kalkkrone.
„Nur hatte ich versprochen, dass heute nicht ein einziger Schuss fallen würde, aber einer fiel doch!“, lachte Rhabanus. „Der, der dem Landrat den Hut vom Kopf fegte!