Eine laue Sommerbrise wehte am Himmel eine Wolke beiseite und der Vollmond kam zum Vorschein. Rhabanus wusste genau, dass Waldkräuter in einer solchen Nacht die größte Kraft entwickeln. Deshalb ging er die geheimen Zutaten für den Apotheker Pipette sammeln, der nicht nur die beste Rheumasalbe diesseits des Lausitzer Gebirges mischen konnte, sondern auch den besten Kräuterbitter brannte. Rhabanus hatte noch nicht einmal einen halben Korb voll gesammelt, als er aus dem Tal von der überfluteten Grube ein leises Schluchzen vernahm.
„Wer weint denn da so zum Steinerweichen?“, dachte Rhabanus bei sich und ging über die kleine Brücke durch die alte Eichenallee zum See.
Am Ufer saß die Nixe Christina und weinte so sehr, dass der See über die Ufer trat.
„Christina, was ist dir denn passiert, dass du so weinst?“, fragte Rhabanus und reichte Christina ein Klettenblatt-Taschentuch.
Christina hörte für einen Moment auf zu schluchzen und trocknete sich die Augen.
„Ich darf nachts nicht auf dem Wasser tanzen, weil das den Wassermann Kalmus beim Schlafen stört“, schluchzte Christina. „Das Leben von uns Nixen aber verkürzt sich um jede Nacht, die wir nicht tanzen. Wenn ich eine ganze Woche lang nicht tanze, werde ich vertrocknen und mich im See auflösen.“
„Und was macht Kalmus hier? Ist er den Wassermann Tröpfelein besuchen gekommen?“, fragte Rhabanus schnell, als er sah, dass Christina schon wieder zu weinen anfing.
„Ach i wo! Wassermann Tröpfelein ist nach Jitschin gegangen, um dem Erlmännchen beim Karpfenzählen zu helfen. Kalmus hat das erfahren und ist mitsamt Gepäck auf dem Wasserweg vom Macha-See hergekommen. Er will sich hier wohl für immer niederlassen“, erklärte Christina und fing schon wieder an zu weinen.
„Wenn du so weiterweinst, trocknest du noch früher aus. Hör auf und hab keine Angst. Ich lasse das doch nicht zu!“, tröstete Rhabanus Christina. Er nahm einen großen Stein in die Hand und schlug mit ihm gegen den kleinen Felsen am Seeufer. Da blubberte es an der Wasseroberfläche und aus dem Schilf am Ufer tauchte der zerzauste grüne Kopf von Wassermann Kalmus auf.
„Mensch, warum störst du mich?“, quakte Kalmus wütend. „Ich bin hier zur Kur und brauche Ruhe!“
„Ich weiß, dass dir unser sauberes Wasser guttut, aber wenn du dich zu Hause genauso um dein Wasser kümmern würdest, wie sich Wassermann Tröpfelein um seines kümmert, dann bräuchtest du keine Kur. Und wenn du Christina nicht auf dem Wasser tanzen lässt, dann verscheuche ich dich aus unserem See und fertig!“, ärgerte sich Rhabanus über Kalmus.
„Das will ich sehen! Wie willst du das machen, wenn du keine Kiemen hast?!“, lachte Kalmus laut und verschwand unter dem Wasser.
„Mir wird schon was einfallen“, sagte Rhabanus und zwinkerte Christina zu. „Keine Angst, morgen um Mitternacht wirst du auf dem See tanzen, so wahr ich Rhabanus heiße!“
Am Morgen brachte er dem Apotheker Pipette die gesammelten Kräuter und dieser gab ihm dafür gleich eine Flasche Kräuterbitter.
Als er aus der Apotheke kam, standen auf der Straße zwei Fuhrmannswagen. Der erste, dem ein Schimmel vorgespannt war, gehörte dem Fuhrmann Winzig vom unteren Stadtplatz und der zweite mit einem Fuchs dem Fuhrmann Zuckerhut vom oberen Stadtplatz. Während sich die beiden Pferde in der Pferdesprache unterhielten, zankten Winzig und Zuckerhut wie jeden Morgen, wer von ihnen der bessere Fuhrmann sei.
„Ich bringe selbst im Winter, wenn zwei Meter hohe Schneewehen liegen, einen mit Bierfässern voll beladenen Wagen rechtzeitig auf die andere Seite des Lausitzer Gebirges!“, prahlte Winzig.
„Was ist das schon!“, tat ihn Zuckerhut ab. „Bevor du mit deinem Bier ankommst, bringe ich einen Wagen voller Mehlsäcke nach Gabel und schaffe es auch noch zurück!“
Rhabanus hörte eine Weile amüsiert zu. Dieses Liedchen der beiden kannte er in- und auswendig, denn sie stritten sich hier regelmäßig jeden Morgen und ihre Stichelei gehörte zum Kolorit der Stadt genau wie das Glockengeläut vom Turm der Bartholomäus-Kirche. Auf einmal kam ihm eine Idee, wie sie einem so kommt, wenn man sie gerade am nötigsten braucht.
„Ihr streitet euch hier jeden Morgen und habt euch noch immer nicht geeinigt. Veranstaltet doch einen Wettkampf, dann wird sich zeigen, wer von euch beiden der Schnellere ist“, schlug ihnen Rhabanus vor.
„Das sagt sich so leicht, Wettkampf“, meinte Winzig. „Aber wenn wir in voller Fahrt die Straßen hinuntersausen, dann fallen die Dachziegel von den Häusern!“
„Warum wollt ihr den Wettkampf in der Stadt abhalten? Kommt vor Einbruch der Dämmerung hinter die Stadt zur überfluteten Grube. Rundherum führt ein Weg, der gerade richtig für zwei Wagen ist. Ich werde das Rennen starten und der Gewinner erhält von mir diese Flasche Kräuterbitter.“
„Und wie viele Runden fahren wir?“, fragte Zuckerhut.
„Ich denke, drei Runden sollten völlig ausreichend sein“, meinte Rhabanus schelmisch, und als beide Fuhrmänner einschlugen, begab er sich zum See, um die Startlinie zu ziehen.
Als am Himmel das Abendrot erstrahlte, setzte sich Rhabanus auf einen Stein, zündete seine Pfeife an und sagte zu Christina, die das herabgefallene Laub vom See fegte:
„Hier wird gleich was los sein. Versteck dich lieber im Schilf, damit du mir nicht allzu sehr erschrickst.“
Da kamen bereits die zwei Fuhrmannswagen durch die Eichenallee zum See gefahren. Einer von einem Schimmel gezogen, der zweite von einem Fuchs. Die beiden Pferde zwinkerten sich zu, als hätten sie heimlich etwas vereinbart. Die beschlagenen Räder der Fuhrmannswagen ratterten so auf dem Steinweg, dass sich alle Fische unter dem Ufer versteckten.
„Keine Angst, ihr Fischlein, euch geschieht nichts. Haltet nur den Krawall einen Moment aus“, beruhigte sie Rhabanus und begab sich zur Startlinie. Die Sonne versteckte sich gerade am Horizont, und das war der Zeitpunkt, zu dem sich Wassermann Kalmus schlafen legte. Winzig und Zuckerhut hielten mit ihren Wagen vor der Startlinie an.
„Der Wettkampf beginnt, sobald ich mit diesem Birkenzweig wedele. Ihr werdet drei Runden um den See fahren, und wer dann als Erster hier durchfährt, gewinnt die Flasche Kräuterbitter“, hielt Rhabanus eine Startrede. Er stellte sich auf einen Stein am Weg, so dass er möglichst gut zu sehen war, und begann laut abzuzählen:
„Auf die Plätze, feeeertig, los!“
Die Pferde fielen Seite an Seite in Galopp, als wollten sie gegenseitig auf sich aufpassen, dass eines dem anderen nicht davonfuhr. Sie wurden immer schneller. Beide Fuhrmänner standen auf dem Bock und trieben sie immer mehr an. Die Holzräder dröhnten auf den Steinen und den Pferden flogen Funken von den Hufen wie bei einem Feuerwerk. Auf der Wasseroberfläche bildeten sich Wellen, obwohl es völlig windstill war. Als sie die erste Runde gefahren waren, lugte Kalmus aus dem Schilf hervor und quakte Rhabanus verärgert an:
„Mensch, halt sie an, oder mir platzen von dem Lärm die Kiemen. Das ist ja kein Kurbad, das ist ein Artilleriemanöver!“
„Wenn du denkst, man könnte sie anhalten, dann tue das selbst. Ich werde ihnen nicht vor die Räder springen“, sagte Rhabanus und ihm war anzusehen, dass ihn nicht einmal die größte Wassermannskraft von dem Stein runterholen könnte. Die Fuhrwerke fuhren an ihnen vorbei und stürmten in die zweite Runde. Zuckerhuts Fuchs stampfte absichtlich noch ein bisschen stärker auf. Vom Huf flog ihm ein Funke wie aus einem Schmiedefeuer, traf Kalmus am Kopf, brannte ein Loch in seinen Hut, zischte und erlosch.
„Au!“, quakte Kalmus, kletterte ans Ufer, stellte sich mitten auf den Weg und breitete die Arme aus, als wollte er den Wind umarmen. Auf dem Weg näherten sich ihm, Seite an Seite, beide Gespanne und Kalmus quakte ihnen entgegen.
„Halt, ihr Lumpen, oder ich verwandele euch in Fischlaich!“
Die Fuhrmänner aber sahen das nicht oder wollten es im Eifer des Gefechts nicht sehen. Die Pferde stürmten in einem enormen Tempo auf den Wassermann zu, und weil es sich in der Dämmerung etwas abgekühlt hatte, stieg Dampf von ihren Nüstern auf. Kalmus nuschelte noch etwas Unverständliches und es gelang ihm im letzten Augenblick, in den See zu hechten.
Nur hatte er vor Schreck vergessen, dass das Wasser am Ufer flach war, und schlug sich gehörig am Boden auf. Rhabanus hielt sich vor Lachen den Bauch und Kalmus verschwand beschämt unter Wasser. Die Fuhrleute waren noch nicht einmal die halbe letzte Runde gefahren, als Kalmus auf der anderen Seite des Sees mitsamt seinem Koffer ans Ufer kletterte. Er brabbelte vor sich hin, dass man ihn hier nie wieder erblicken würde, und zog in Richtung Fluss.
„Gute Reise!“, rief Rhabanus ihm nach, aber da musste er schon aufpassen, denn auf der Zielgeraden näherten sich ihm beide Wagen. Die Pferde zwinkerten sich zu und gaben gut Acht, dass sie beide gleichzeitig im Ziel ankamen. Rhabanus winkte ihnen den Zieleinlauf mit dem Birkenzweig ab. Die Fuhrwerke hielten an und beide Fuhrmänner liefen auf Rhabanus zu.
„Nun, wer ist der Schnellere?“, wollten beide wissen.
„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Rhabanus, „aber ihr seid beide gleichzeitig angekommen. Die Flasche Kräuterbitter gewinnt ihr zusammen und ich würde mich freuen, wenn ihr sie gemeinsam auf mein Wohl leeren würdet.“
Die Fuhrmänner gaben sich die Hand, wünschten Rhabanus viel Gesundheit, stiegen auf ihre Wagen und fuhren langsam durch die Eichenallee zur Stadt. Rhabanus hörte noch, wie Winzig zu Zuckerhut sagte:
„Hätte ich meinen Schimmel gestern Abend frisch beschlagen lassen, dann hätte ich bestimmt gewonnen!“
„Unsinn!“, antwortete ihm Zuckerhut. „Hätte ich meinem Fuchs heute Nachmittag nicht so viel Hafer gegeben, dann hätte ich gewonnen.“ Nur ihre Pferde wussten es besser.
Rhabanus schmunzelte und sagte zu Christina, die fröhlich ans Ufer getanzt kam:
„Christina, wenn du deinen Tanz zu Ende tanzt, vergiss nicht, das Geschirr zu spülen und das Wasserbett frisch zu beziehen, damit Wassermann Tröpfelein ins Saubere zurückkehren kann!“