Roimund von Roynungen war nämlich kein Raubritter, sondern der Gastwirt Unterschank aus Ringelshain, der seine Gäste geschröpft hatte. Die sind zur Konkurrenz gegangen, Unterschank musste sein Gewerbe schließen und war bis auf die Knochen blamiert. Wegen dieser Schande floh er in den Wald auf den Berg, wo die Ruine der alten Burg Roynungen stand, und versteckte sich dort vor den Menschen. Er begann sich nach seinem neuen „Sitz“ zu benennen und versuchte sich von Räuberei zu ernähren. Aber besonders erfolgreich war er dabei nicht. Er konnte nur diejenigen überfallen, die ihn nicht kannten, und von denen liefen in den Lausitzer Wäldern nur wenige herum. Und wenn schon jemand von anderswo auftauchte, war es meist ein Pilzesammler, der nichts bei sich hatte, was man rauben könnte. Wenn er noch dazu einen leeren Korb hatte, verriet ihm Roimund, wo die meisten Steinpilze und Rotkappen wuchsen. Schon mehrmals hatte Unterschanks Frau Rhabanus gebeten, den Gastwirt zu überreden, nach Hause zurückzukommen und sein Gewerbe wieder zu eröffnen. Sie war überzeugt, dass die Stammgäste zu ihm zurückkehren würden, wenn er sie nicht mehr betröge. Aber Unterschank wollte davon nichts wissen. Angeblich würde ihm die Räuberei genug einbringen. Aber Rhabanus wusste, wie es tatsächlich aussah.
Als er nach Spittelgrund kam, und den Wald betrat, überlegte er, hinter welchem Baum sich Unterschank verstecken könnte oder aus welchem Dickicht er hervorspringen würde. Er freute sich darauf, sich überrascht und erschrocken zu stellen, um dem Gastwirt eine Freude zu machen. Aber heute geschah nichts. Rhabanus ging bis zu den Rabensteinen und traf unterwegs keine Menschenseele. Als er zur Klause kam, wartete dort Frau Unterschank händeringend auf ihn.
„Frau Gastwirtin, Sie wissen doch“, platzte Rhabanus hervor, bevor sie irgendetwas sagen konnte, „dass ich ihren Mann mindestens hundert Mal zu überreden versucht habe, aber er will nichts davon hören!“
„Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin, Rhabanus. Ich habe Angst, dass meinem Alten etwas zugestoßen ist. Jede Nacht kam er zum Essen nach Hause, damit ihn niemand sehen konnte, aber gestern ist er nicht gekommen“, schluchzte Frau Unterschank.
„Es stimmt, dass er mich heute auch nicht ausgeraubt hat, und dabei habe ich einen frischen Laib Brot für ihn“, dachte Rhabanus laut nach. „Weinen Sie nicht, Frau Gastwirtin. Ich gehe zur Burg Roynungen und finde heraus, was passiert ist.“ Er ließ den Laib Brot für Roimund in seinem Ränzlein und steckte noch eine Flasche Kräuterbitter dazu, falls ihn die echten Räuber vom Raubschlossberg überfallen sollten. Aber die raubten lieber beim Hufeisenstein oder im Felsentheater.
Jedes Mal, wenn Rhabanus nach Petersdorf ging, hatte er eine Flasche Kräuterbitter dabei. Die bereitete den Räubern große Freude. Er begleitete Unterschanks Frau vorbei an den Oberwegsteinen bis hin zum Gasthof in Schwarzpfütz, dort verabschiedete er sich von ihr und machte sich auf zur Burg Roynungen. Als er unter der Burg stand, rief er:
„Ritter Roimund von Roynungen, bist du zu Hause?!“ Niemand antwortete, also ging er noch ein Stück näher zur Burg. Eigentlich war es schon keine Burg mehr. Da standen nur noch zwei halb eingestürzte Mauern und unter ihnen befand ein halb verfallener Burgkeller, in dem sich Unterschank vor dem Regen versteckte. Rhabanus musste seinen Kopf etwas einziehen, um sich nicht zu stoßen, als er den Keller betrat. Als er sich ein bisschen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah er, dass Unterschank auf drei Strohgarben lag. Um sein geschwollenes Gesicht hatte er einen Schal gebunden, seine Nase war knallrot und aus seinen Augen rannen erbsengroße Tränen.
„Was machst du denn hier, Gastwirt, das wird dich ja noch deine Gesundheit kosten!“, herrschte ihn Rhabanus an. Unterschank erschrak nicht einmal, drehte sich nur von der linken Seite auf die rechte und jammerte:
„Mein Zahn tut weh und noch dazu hat sich ein Nieser verklemmt. Hilf mir Rhabanus, ich halte das nicht mehr aus!“
„Wundert es dich, dass du dich hier, in dieser Feuchtigkeit, erkältet hast? Ich helfe dir, aber du musst mir etwas versprechen.“
„Ich werde alles tun, was du willst! Hilf mir nur von dieser Qual!“
„Also gut. Ich werde dir von deinen Zahnschmerzen und dem verklemmten Nieser abhelfen und du kehrst dafür nach Hause zurück, eröffnest dein Gewerbe und benennst deine Gastwirtschaft um. Sie wird nicht mehr Gasthof „Zum Unterschank“ heißen, sondern Gasthof „Zum richtigen Maß“.
„Nein, Rhabanus, das nicht! Ich kehre nach Hause zurück, eröffne mein Gewerbe, aber meine Gastwirtschaft werde ich nicht umbenennen!“, erzürnte sich der Gastwirt und verdrehte die Augen in alle Richtungen.
„Gut. Von deinem Nieser helfe ich dir ab und mit deinem Zahn gehst du nach Ketten zum Schmiedemeister Malm. Der ist, wie mir zu Ohren kam, ein Fachmann für Zähne“, sagte Rhabanus und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Unterschank darauf reagieren würde.
„Nein, Rhabanus, nur das nicht! Ich werde meine Gastwirtschaft umbenennen, ich werde aufhören, meine Gäste zu schröpfen, nur bitte, rette mich schon!“, versprach der Gastwirt, rang die Hände und wollte schon vor Rhabanus niederknien. Aber dieser meinte zu ihm:
„Du musst noch einen kleinen Moment aushalten, bis ich hinab ins Dorf gehe und die richtige Medizin hole.“
„Aber beeile dich, Rhabanus, oder mich bringt das um. Lange halte ich das nicht mehr aus.“
Rhabanus verließ unter der Burg Roynungen den Wald und machte sich auf nach Ringelshain. Als er zum geschlossenen Gasthof kam, pochte er bei Frau Unterschank an die Tür.
„Öffnen Sie, Frau Gastwirtin. Wenn Sie mir helfen, wird ihr Mann noch heute zu Ihnen nach Hause zurückkehren!“
Frau Unterschank konnte das nicht glauben. Als Rhabanus ihr erzählte, was er auf Roynungen herausgefunden hatte, sagte sie, dass ihrem Alten dies recht geschehe, wenn er einen solchen Dickkopf habe, aber es war ihr anzusehen, dass sie froh war.
Rhabanus borgte sich eine Hacke und grub hinter dem Zaun Meerrettich aus. Er brachte ihn zu Frau Unterschank, diese rieb ihn, und als sie sich ihre Augen an einem Taschentuch abtrocknete, sagte sie:
„Siebenjähriger, der ist am stärksten!“
Rhabanus gab den Meerrettich in ein Fläschchen, verschloss dieses sorgfältig, damit sich die Schärfe des Meerrettichs nicht verflüchtigte, und bat Frau Unterschank:
„Jetzt brauche ich noch einen Faden. Aber einen so festen, dass er einen Stein aus der Burgmauer tragen kann.“
Als sie ihm diesen brachte, spannte er ihn mit den Händen, um festzustellen, was er aushält, zwinkerte und meinte:
„Der ist gut.“
Als er zurück zur Burg kam, wartete Unterschank dort schon auf ihn und klagte:
„Das hat ja eine Ewigkeit gedauert. Du warst die Medizin wohl bis aus Warnsdorf holen!“
„Du hast es ausgehalten, eine ganze Nacht hier zu jammern, da wirst du es wohl noch einen kleinen Augenblick aushalten. Keine Angst, gleich wirst du nichts mehr davon wissen, dass dir irgendwann einmal ein Zahn weh getan hat, und du wirst so niesen, dass der Rest der Burg ins Tal hinabstürzt!“
Danach stellte Rhabanus Unterschank auf einen großen Baumstumpf und band ein Ende des Fadens an seinem schmerzenden Zahn fest.
„Nun nimm diesen Stein von der Burgmauer in die Hände und halte ihn gut fest!“ Unterschank rollte nur ungläubig mit den Augen und verstand nicht, was Rhabanus da eigentlich tat. Letzterer hatte inzwischen das zweite Ende des Fadens an dem Stein festgebunden und stellte sich hinter den Gastwirt. Er pflückte einen langen Grashalm und begann, Unterschank damit abwechselnd hinter dem linken und dem rechten Ohr zu kitzeln. Unterschank konnte das Kitzeln nicht mehr aushalten und musste sich kratzen. Er ließ den Stein los und dieser riss ihm mit seinem Gewicht den schmerzenden Zahn aus. Als der Gastwirt sah, wie der Stein ins Tal hinabrollte und der Zahn am Faden hinter ihm herhüpfte, wollte er vor Erleichterung tief Luft holen und pfeifen, aber da hielt ihm Rhabanus das offene Fläschchen mit dem siebenjährigen Meerrettich unter die Nase. Unterschank schossen die Tränen in die Augen wie Wasser aus dem Schlossbrunnen. Einen Moment sah es so aus, als würde er seine Seele aushauchen, aber dann erschallte auf einmal ein solches Niesen, dass es auf der einen Seite Rhabanus in die Brennnesseln warf und auf der anderen Seite eine der Burgmauern ins Tal.
„Dass Meerrettich ordentliche Kraft hat, das wusste ich. Aber dass er eine halbe Burg abreißen kann, das ahnte ich nicht!“, lachte Rhabanus, als er aus den Brennnesseln kroch. Unterschank begriff langsam, was eigentlich geschehen war. Er hörte auf, die Augen zu verdrehen, und als er feststellte, dass ihm sein Zahn nicht mehr weh tat und sich sein steckengebliebener Nieser gelöst hatte, sprang er vom Baumstumpf und half Rhabanus auf die Beine.
„Ich danke dir, Rhabanus, du hast mein Leben gerettet!“
„Ich hoffe nur, du vergisst nicht, was du mir versprochen hast.“
„Keinesfalls!“, rief Unterschank und rannte den Pfad bergab in Richtung Ringelshain los. „Gleich morgen eröffne ich mein Gewerbe und wenn du bei uns einkehrst, bekommst du deine ganze Zeche umsonst.“
Eine Woche darauf kehrte Rhabanus aus Gabel zurück, wo er sich beim Schuster Pechdraht seine Schuhe reparieren lassen hatte. In den reparierten Schuhen lief es sich wie im Frühlingsmoos und so sprach er zu sich: „Über Finkendorf ist es nach Hause näher, aber wo es sich so gut läuft, mache ich einen Umweg über Ringelshain und schaue nach, ob der Gastwirt Unterschank sein Versprechen gehalten hat.“ Schon von Ferne sah er über dem Eingang zum Gasthof ein Aushängeschild leuchten, auf dem mit Zierschrift geschrieben stand: „GASTHOF ZUM RICHTIGEN MASS“. Eine noch größere Überraschung erwartete Rhabanus, als er hineinging. In der Gaststube summte es wie in einem Bienenstock. Am Tisch unter dem Kleiderhaken spielten die Bauern Mariage, der Bürgermeister und der Herr Lehrer spielten Billard und am Fenster stritten zwei Holzfäller, wer von ihnen in der rechten Hand mehr Kraft habe. Von allen Seiten waren Gelächter und das Klingen von Bierkrügen zu vernehmen. Frau Unterschank lief wieselflink durch das Lokal und der Gastwirt kam mit dem Bierzapfen gar nicht hinterher. Als sie Rhabanus in der Tür stehen sahen, stürzte Frau Unterschank auf ihn zu und schnatterte:
„Herzlich willkommen bei uns, Rhabanus! Setz dich und sag, was du bekommst.“ Sie setzte ihn ans Fenster auf den letzten freien Platz und lachte wie die Frühlingssonne.
„Nun, auf dem Weg aus Gabel bin ich ordentlich ausgehungert und ich komme fast um vor Durst. Gebt mir ein kühles Bierchen und einen Teller Rindergulasch. Und vergesst nicht, ihn mit geriebenem Meerrettich zu bestreuen“, bestellte Rhabanus und zwinkerte dabei Unterschank zu. Als er den Gulasch aufgegessen, den Teller mit dem letzten Stück Brot trocken gewischt, sein Bier ausgetrunken und sich mit der Hand den dichten weißen Schaum aus dem Bart gewischt hatte, drehte sich Unterschank zu ihm um und fragte ihn leise:
„Rhabanus, könnte ich meinen Gasthof nicht doch umbenennen?“
„Nun gut“, willigte Rhabanus ein. „Da du dich gut um dein Gewerbe kümmerst, dein Gulasch deftig und dein Bier süffig ist, nenne deinen Gasthof von mir aus wie du willst.“
Der Gastwirt sprang vor Freude in die Luft und lief nach draußen. Rhabanus verabschiedete sich von Frau Unterschank und diese gab ihm noch eine Kasserolle mit heißer Knoblauchsuppe mit. Diese würde ihm „zum Abendessen gelegen“ kommen.
„Ich danke Ihnen, Frau Gastwirtin, und die Kasserolle bringe ich wieder zurück, sobald ich einmal in der Nähe bin“, bedankte sich Rhabanus und ging nach draußen. Der Gastwirt räumte gerade Pinsel und Farbe unter den Schuppen. Auf dem Aushängeschild leuchtete eine neue Aufschrift: „GASTHOF ZUM RITTER RAIMUND VON ROYNUNGEN“. Der Einsiedler Rhabanus lachte, klopfte dem Gastwirt auf den Rücken, wünschte ihm viel Glück und machte sich auf den Weg nach Hause zu den Rabensteinen.
Seit dieser Zeit ist von der Burg Roynungen nur noch eine Mauer übrig und die Gastwirte in allen Gasthöfen am Fuße des Lausitzer Gebirges zapfen stets das richtige Maß, denn sie haben Angst davor, dass sie Zahnschmerzen bekommen oder ihnen ein Nieser steckenbleibt