„Da würde mich der Nordwind ausschimpfen, wenn ich ihn eine Woche zu früh wecken würde“, dachte Rhabanus bei sich und schaute ins Tal.
Der Kirchturm in Grottau glänzte in der Vormittagssonne und die Flügel der Windmühle in Kohlige drehten sich langsam.
„Die Bauern im Tal haben schon alles Getreide geerntet“, brummte Rhabanus in seinen Bart. Auf einmal kitzelte ihn etwas hinterm rechten Ohr, als würde ihn ein Farnzweig streicheln. Das passierte ihm jedes Mal, wenn im Grafensteiner Forstrevier irgendein Unrecht geschah.
Im selben Moment trug ihm ein Windhauch die Melodie der auf einem Waldhorn gespielten gräflichen Fanfare ans linke Ohr heran und auf dem Turm des Grafensteiner Schlosses wehte die gräfliche Fahne.
Rhabanus ging in die Klause seine Flinte holen, die ihm noch aus der Zeit geblieben war, als er als Grafensteiner Förster gedient hatte. Noch bevor er die Flinte schultern konnte, knackte und schnaufte es im Dickicht unter dem Felsen und Borstel, der älteste und weiseste Keiler im ganzen Revier, kam auf Rhabanus zugerannt.
„Rhabanus, es sieht bös aus. Du musst uns helfen! Graf Feuerschlag hat sich in den Kopf gesetzt, im Grafensteiner Wald alle achtzig Eichen fällen zu lassen. Eine Woche vor der Ernte! Was werden wir nur im Winter tun, wenn wir nichts zu essen haben?“
„Keine Angst, Borstel, irgendein Wichtigtuer wird uns keine Unordnung im Wald schaffen! Selbst wenn es der Kaiser höchstpersönlich wäre“, redete sich Rhabanus in gerechten Zorn, wandte sich in Richtung Pankratz und pfiff zum zweiten Mal auf seiner neuen Pfeife. Diesmal aber ein bisschen lauter, so dass der Ton bis in den Pankratzer Wald zu hören war.
Innerhalb von so kurzer Zeit, dass nicht einmal ein Zapfen vom Baum auf die Erde hätte fallen können, hallte ein leises Klingen durch den Wald. Das waren die Hufe des weißen Hirschs Kalkkrone, die auf den Felsen des Bergrückens klangen, der seit eh und je Ziegenrücken genannt wurde. Als er zu den Rabensteinen kam, hielt er an und sprach:
„Rhabanus, du musst mir nichts mehr sagen, der Turmfalke Antonius hat mir schon alles erzählt. Graf Feuerschlag hat sich gestern Abend angeblich wieder so mit einem Braten übergessen, dass sein Grafenbett unter ihm zerbrochen ist. Gleich am Morgen gab er Förster Astmann dann den Befehl, alle Eichen fällen zu lassen, und er will sich selbst die am besten gewachsene aussuchen, um sich ein neues Bett aus ihr machen zu lassen. Ein solches, das selbst dann nicht unter ihm zusammenbräche, wenn er einen ganzen Leiterwagen voller Leberwürste äße!“
„So nicht! Wegen des Bombasts des Grafen wird im Wald nicht einmal eine geknickte Espe fallen, und schon gar nicht achtzig hundertjährige Eichen! Kalkkrone, bitte bring mich dorthin, so dass ich noch vor Astmanns Holzfällertruppe da bin.“
Rhabanus schwang sich auf den Rücken des Hirsches und sie sprangen im Galopp den Schafberg hinunter zur Neiße. Dort liefen sie flussaufwärts und durchwateten den Fluss an einer seichten Stelle, natürlich vorsichtig, damit sie nicht alle Forellen im Fluss aufschreckten. Sie überquerten die Wiese, und von den Gallas-Teichen begaben sie sich bergauf über die Grafensteiner Hauptstraße bis hin zu den achtzig Eichen. Sie machten an der großen Futterkrippe Halt, die hier schon stand, als der Keiler Borstel noch ein kleines Ferkel war.
Von hier aus sahen sie, wie die Holzfällertruppe den Hang hinauf auf sie zukam. Sie waren ein ganzes Dutzend. Auf den Schultern trugen sie Sägen und Äxte und vor ihnen marschierte wie ein General der Förster Astmann. Ohne seine Fasanenfeder am Hut wäre er in dem hohen Gras gar nicht zu sehen gewesen. Er schleifte seine Flinte fast am Boden und diese stieß ihn bei jedem Schritt von hinten in die Waden, so dass er aufsprang. Inzwischen kam auf der Hauptstraße die Grafenkutsche angeholpert und unter großer Anstrengung kletterte Feuerschlag aus ihr heraus auf den Fußpfad.
Rhabanus trat hinter der Futterkrippe hervor und rief mit tiefer Stimme:
„Halt! Was stellst du hier an, Astmann?! Du scheuchst ja alles Wild weit und breit auf!“
Förster Astmann erschrak so sehr, dass er auf einen Baumstumpf plumpste.
„Ich gehe die Eichen fällen und du wirst mich kaum daran hindern!“, stieß er hervor, als er sich von seinem Schrecken erholt hatte.
„Da wirtschaftest du aber hübsch in unserem Wald, Astmann. Du hast nicht einen einzigen Baum gepflanzt und willst achtzig von ihnen fällen. Das ist aber eine merkwürdige Art zu rechnen!“
Der Förster tat, als würde er Rhabanus nicht sehen, und begann, die Eichen mit Kreide zu markieren, damit klar war, welche Eiche zuerst gefällt werden sollte und welche gleich danach. Graf Feuerschlag blieb in der Zwischenzeit bei seiner Kutsche, denn im Wald hatte er Angst, dass er sich seine teuren seidenen Kleider beschmutzen könnte und ihm Nadeln und trockenes Laub auf seine weiße Perücke fallen könnten. Rhabanus tat, als wüsste er nicht von dem Grafen, und sprach:
„Da kann man nichts machen, ich werde ein drittes Mal auf meiner Pfeife pfeifen müssen.“ Er drehte sich in Richtung Hahnberg um, holte tief Luft und pfiff so stark auf seiner Pfeife, dass die Glocke auf dem Turm der Weißen Kirche ins Schaukeln geriet. In demselben Augenblick verdunkelte sich der Himmel über dem Pfaffenstein, und ein Rauschen begann, wie wenn Gänse im Herbst in warme Gefilde ziehen. Über der Neiße wurde davon das Lied des Windes lustiger, aber über den Gallas-Teichen summte es schon wie ein wütendes Wespennest. Einen kurzen Augenblick später durchkämmte der Nordwind vorsichtig das Laub der hundertjährigen Eichen.
„Warum lässt du mich nicht ausschlafen, Rhabanus?“, heulte er und sah sich um.
Rhabanus erzählte ihm, was los war, und wartete, wie der Nordwind darauf reagieren würde. Der zwängte sich unter der Kutsche hindurch, blies dem Grafen die Perücke vom Kopf und wehte sie in das Brombeergebüsch. Als der Förster und der Graf versuchten, sie wieder herauszuziehen, pustete der Nordwind noch stärker, so dass er beide in eine Schlammpfütze mitten auf dem Waldpfad setzte. Graf Feuerschlag spritzte mit seinem gut gepolsterten Hinterteil beinahe alles Wasser aus der Pfütze und schrie mit quiekender Stimme:
„Förster, hilf mir auf die Beine, mich friert es fürchterlich am Rücken!“
Da aber hielten sich alle Holzfäller schon vor Lachen die Bäuche.
Inzwischen war der Nordwind höher in die Baumkronen gestiegen und brauste:
„Rhabanus, versteck dich beim Hirsch unter der Futterkrippe. Wenn du mich schon geweckt hast, fangen wir doch gleich mit der Eichelernte an.“
Er wehte so stark durch die Kronen der Eichen, dass die reifen Eicheln wie ein Sommerhagel auf die Erde regneten. Die Pferde gingen mitsamt Kutsche durch und galoppierten in Richtung Beckenberg davon. Der Graf verbarg seinen kahlen Kopf unter seinen Händen und quietschte:
„Astmann, was ist das für eine wilde Kanonade? Bring mich schnell aus dem Wald, oder ich werde zu Tode bombardiert!“
Beide liefen zum Schloss los. Sie stolperten über Baumstümpfe, und als sie schon fast auf der Grafensteiner Straße waren, blies ihnen der Nordwind noch einmal ordentlich in den Rücken. Das brachte sie so zum Laufen, dass sie beinahe nicht anhalten konnten und in den Schlossteich fielen. Erst dann beruhigte sich der Nordwind wieder und begann, in den Kronen der hundertjährigen Eichen ein lustiges Liedchen zu singen.
„Da wir nun schon geerntet haben, gehe ich mich jetzt ausschlafen.“
Rhabanus bedankte sich bei ihm und wünschte ihm einen ruhigen Schlaf. Der Nordwind zog sich langsam unter den Hahnberg zurück. Die Holzfäller sammelten die Eicheln in Säcke und verstauten sie für den Winter unter der Futterkrippe. Anschließend gingen sie zufrieden nach Hause, weil sie nun Zeit für nützlichere Arbeit hatten. Als es rundherum still wurde, klopfte der Hirsch Kalkkrone mit seinem Huf auf den steinigen Pfad, damit die Tiere wussten, dass sie in ihren Wald zurückkehren können.
„Ich bringe dich zurück zu den Rabensteinen“, bot der Hirsch Rhabanus an.
„Das ist nett von dir, aber es reicht, wenn du mich in Spittelgrund absetzt. Ich werde im Gasthof Zur Grasmücke Halt machen und dort ein Bierchen trinken. Irgendwie ist mir bei dieser Ernte vor Lachen der Hals ausgetrocknet.