„Wenn du den Wein im Winter trinkst“, sagte er zu Rhabanus, „dann bekommst du den ganzen Winter über keine Erkältung! Schließlich bekommt ihn auch der gebürtige Kettener Meister Triller von mir, und der sagt, dass seine Stimme dank den Sauerkirschen so rein wie das Wasser im Waldbrünnlein sei. Und das hat schon was zu sagen, Rhabanus. Schließlich ist Meister Triller ein berühmter Sänger, der sogar in der kaiserlichen Oper singt! Der kann sich keine Heiserkeit erlauben.“
Als sich Rhabanus mit Glühwein aufgewärmt hatte, lud er Heu und einen Sack Kastanien, die die Kinder der Grottauer Schule gesammelt hatten, auf den Rodelschlitten und fuhr mit dieser Ladung zu den Futterkrippen. Er wusste, dass den Tieren im Wald den ganzen Winter über mächtig der Magen knurren würde, wenn er sich auf Förster Astmann verlassen wollte. Aber als er zur ersten Futterkrippe bei den Oberwegsteinen kam, traute er seinen Augen kaum. Die Futterkrippe war voll mit frischem Stroh, und an der zweiten Futterkrippe im Kaisergrund waren sogar Eicheln ausgestreut und daneben lag ein Salzleckstein!
Bevor Rhabanus seinen Schlitten hinauf zum Pfaffenstein gezogen hatte, hörte er von der dritten Futterkrippe ein Liedchen. Er wusste nicht, wer da sang, aber etwas so Schönes hatte er in seinem Leben noch nie gehört. Das Stimmchen war so klar, als würden Millionen goldene Schellen klingen. An der Futterkrippe stand ein Mädchen und lud den letzten Armvoll Heu vom Schlitten.
„Wer bist du?“, fragte Rhabanus, als er näherkam. Das Mädchen erschrak ein wenig, und als es Rhabanus ansah, senkte es den Blick und Röte schoss ihm in die Wangen. Es hatte Augen so blau wie reife Schlehen, und sein goldenes Haar glänzte wie Tautropfen in der Morgensonne.
„Ich heiße Anna“, sagte das Mädchen und wurde immer röter.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“
„Ich weiß, du bist Rhabanus. Ich habe schon von dir gehört.“
„Aber ich habe ein so schönes Mädchen hier noch nie gesehen. Wer hat dich mit dem Futter geschickt?“
Anna wurde noch röter und antwortete:
„Gräfin Feuerschlag.“
Als Rhabanus den Namen hörte, haute es ihn beinahe um.
„Gräfin Feuerschlag ist eine sehr strenge, aber gerechte Dame. Ich diene bereits das dritte Jahr bei ihr und habe den besten Dienst im ganzen Kaiserreich!“
Die Gräfin war nämlich die Tante unseres gerissenen Herrn Grafen. In letzter Zeit hielt sie sich in der Großskaler Herrschaft im Siebenberger Bad auf. Dort, so sagte sie, brachte sie ihre alten Knochen in Ordnung. Immer öfter kamen ihr aber Nachrichten über die Herrschaft ihres Neffen auf Grafenstein zu Ohren. Deshalb entschloss sie sich, ihre Heilkur vorzeitig zu beenden, und fuhr ihre Herrschaft wieder in Ordnung bringen.
Rhabanus konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mit diesem Namen ein guter Mensch sein konnte, aber da ihm das ein so wunderschönes Wesen sagte, schenkte er ihm schließlich gern Glauben. Er begleitete Anna an den Rand des Waldes. Unterwegs unterhielten sie sich noch ein bisschen, und Anna versprach ihm, morgen wieder zum Pfaffenstein zu kommen.
Als Rhabanus zu Hause in seinen zersprungenen Spiegel schaute, wunderte er sich nicht mehr, dass Anna im Wald so vor ihm erschrocken war. Er ging also ins Grottauer Bad zum Barbier Klinge. Dieser rasierte Rhabanus, schnitt ihm die Haare und kämmte ihn. Und als er sich von ihm verabschiedete, sprach er zu ihm:
„Rhabanus, du gehst dir wohl eine Braut holen?“ Und als er sah, wie Rhabanus errötete, lachte er und fügte hinzu:
„So herausgeputzt könntest du selbst um die Hand der Prinzessin anhalten!“
Rhabanus wusste selbst nicht, was mit ihm los war. Er konnte an nichts anderes denken, als an Anna. In der Nacht wälzte er sich hin und her, konnte lange nicht einschlafen, und als es ihm endlich gelang, träumte er, dass er Anna singen hörte, und wachte davon wieder auf. Er konnte den nächsten Morgen kaum erwarten. Schnell verschlang er sein Frühstück und lief schon zur Futterkrippe, um nach Anna Ausschau zu halten.
Im ganzen Wald herrschte eine festliche Atmosphäre, denn es war gerade Heiligabend. Der Schnee glitzerte in der Morgensonne und überall herrschte heilige Stille. Rhabanus ließ sich gemütlich auf einem kleinen Felsen nieder, so dass er ins Tal sehen konnte, wann Anna kommt. Plötzlich wurde die Stille von dem Geflatter von Falkenflügeln unterbrochen.
Als nämlich Anna aus dem Wald nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie erzählt, wem sie begegnet war. Und die Gräfin ließ sich vernehmen, dass sie bereits über Rhabanus Bescheid wusste, dass ihr mehrere glaubwürdige Menschen von ihm berichtet hatten.
„Madame“, sagte Anna zur Gräfin, „wenn Ihr Rhabanus zum Förster machen würdet, Ihr würdet sehen, wie der Wald wieder fröhlich zu trällern anfinge!“
„Isch selbscht weiß sehr gut, das Aschtmann nischt mal eine Flinte tragen kann. Anna, isch werde sehen, was sisch da machen läscht.“
Zu allem Unglück aber hatte Graf Feuerschlag das ganze Gespräch an der Tür belauscht, die einen Spalt breit offenstand.
„Du willst also Ränke gegen mich schmieden, du lausige Göre. Na warte“, dachte Feuerschlag bei sich und ließ Anna zu sich rufen, ohne dass die Gräfin etwas davon merkte.
„Zum Weihnachtsessen werden die besten Weine aus dem Schlosskeller gereicht. Anna, du kommst jetzt mit mir und ich zeige dir, welche das sind.“ Er führte Anna in das tiefste Kellergewölbe und sperrte sie dort hinter ein geschmiedetes Gitter.
„Hier wird dich niemand finden, und wenn meine Tante nach dir fragen sollte, sage ich ihr, dass du zu deinem Rhabanus geflohen bist.“
„Das kommt mir merkwürdisch vor, Hans“, wunderte sich die Gräfin, als ihr Feuerschlag das erzählte.
„Aber isch werde der Sache schon auf den Grund kommen.“
An jenem Morgen wartete Rhabanus vergeblich auf Anna. Er hatte schon seine dritte Pfeife aufgeraucht, als der Turmfalke Antonius über seinem Kopf mit den Flügeln schlug.
„Ich werde Anna schon irgendwie aus diesem Gefängnis bekommen!“, donnerte Rhabanus so laut, dass es der ganze Wald hörte.
„Und wie willst du das anstellen? Auf das Schloss kommst du nicht, überall stehen Wachen. Dort schlüpft nicht mal ein Mäuschen hindurch.“
„Und ich sage dir, irgendwie komme ich in diesen vertrackten Keller, selbst wenn ich mich durch die ganze Weltkugel durchgraben müsste!“
„Das wird nicht nötig sein, Rhabanus“, war plötzlich von der Futterkrippe zu vernehmen, und da stand der Hirsch Kalkkrone in seiner vollen Schönheit. „Aus dem Stall des Grottauer Schlosses führt ein Geheimgang bis in den Grafensteiner Keller.“
„Na gut. Aber wie finde ich den Gang, wenn er geheim ist?“
„Der Fuchs Rotfeuer wird dir helfen, wenn du ihm sagst, wer dich schickt.“
Rhabanus steckte sich einen Schlüssel in die Tasche, den der Wetzwalder Schmied Blasebalg geschmiedet hatte und der jedes Schloss am Fuße des Lausitzer Gebirges zu öffnen vermochte, sofern es von einem Menschen mit guter Absicht aufgeschlossen wurde. Im Schlosspferdestall zündete Rhabanus eine Fackel an. Rotfeuer stand da, als hätte er ihn bereits erwartet. Als er ihm ins Ohr flüsterte, warum er gekommen war und wer ihn schickte, schnaubte der Fuchs und stampfte dreimal auf das Pflaster. In der Ecke des Stalls knirschte etwas und auf dem Boden unter dem Stroh wurde ein Stein zur Seite geschoben, hinter dem der Eingang zum Geheimgang verborgen lag. Rhabanus bedankte sich bei Rotfeuer. Als er sich in den unterirdischen Gang herabließ, hörte er es über sich erneut dreimal stampfen und der Eingang über seinem Kopf schloss sich wieder. Der Gang zur Burg Grafenstein war zeitweise niedrig, dann wieder hoch, zeitweise so eng, dass sich Rhabanus kaum durchzwängen konnte, und dann wieder so breit, dass auch eine Herrenkutsche durchkäme. Als der Gang steil anzusteigen begann, ahnte Rhabanus, dass er sich schon dem Grafensteiner Keller näherte. Hinter der letzten Ecke des Ganges gelangte er zu einem verschlossenen Gitter und dahinter sah er Anna. Ihre Augen waren verweint, aber als sie Rhabanus erblickte, fing sie an zu strahlen wie die Frühlingssonne. Rhabanus schloss mit dem Zauberschlüssel das Gitter auf und Anna fiel ihm um den Hals. Als sie aus dem Keller auf den Schlosshof traten, war es schon Nacht.
Auf dem Hof leuchtete der Weihnachtsbaum und aus der Kapelle war der Kirchenchor von St. Bartholomäus zu hören, wie er „Der Heiland ist geboren“ sang. Gerade endete die Mitternachtsmesse und am Himmel leuchtete ein Stern auf.
Als erste kam Gräfin Feuerschlag aus der Kapelle, und gleich hinter ihr Graf Feuerschlag. Als dieser Anna und Rhabanus auf dem Hof am leuchtenden Baum erblickte, wurde er kreidebleich. Er versuchte, sich aus dem Staube zu machen, aber die Gräfin bekam ihn im letzten Moment am Kragen zu fassen.
„Also wirklisch, Hans! Das hätte isch mir ja denken können. Wie willscht du mir das erklären?“
Ganz grün im Gesicht fing Feuerschlag an zu zittern und begann, deutsch-tschechisch etwas Wirres zu brabbeln.
„Hans, das ischt dein letschtes Weihnachten auf Grafenstein. Pack sofort deine Siebensachen. Morgen früh fährscht du nach Öschterreisch. Und dein Kaschperle Aschtmann nimmscht du gleisch mit!“
Danach sah sie Rhabanus über ihren Zwicker lange und wohlgefällig an.
„Haare schwarz wie Ruß, in den Augen ein Funken wie aus dem Schmiedefeuer. Das nenn isch einen feschen Förschter!“ Aber was sag isch Förschter? Höchschter Oberförschter! Rhabanus, du kehrscht sofort ins Forschthaus zurück.“
Und als sie sah, wie Anna ihrem Rhabanus die Hand hielt, fügte sie hinzu:
„Ein Oberförschter braucht eine Hausfrau, und die Hochzeit kann schon gleisch am Dreikönigschtag stattfinden.“
Als Anna das hörte, fiel sie Rhabanus um den Hals und gab ihm einen solchen Kuss, dass es durch das ganze Grafensteiner Forstrevier schmatzte.
Und es wurde Hochzeit gefeiert! Auf dem Platz vor der St.-Bartholomäus-Kirche reihte sich der Hochzeitszug auf. An seiner Spitze stand eine Kutsche, vor welcher der weiße Hirsch Kalkkrone eingespannt war. In der Kutsche saßen Braut und Bräutigam, hielten sich die Hände, sahen sich in die Augen und lächelten sich verliebt zu. Nachdem ihnen der Pfarrer in der Kirche die Hände verbunden und ihnen für ihren gemeinsamen Lebensweg viel Glück gewünscht hatte, bewegt sich der ganze Zug in Richtung Schloss, wo die Frau Gräfin im größten Saal die Hochzeitstafel hatte vorbereiten lassen. Und es wurde so gefeiert, wie es sich gehört, wenn sich ein Oberförster vermählt.
Und von da an bis heute muss ein Wanderer, der in der Gegend um Grottau durch die Landschaft, die Wälder und die Felsenstädte zieht, ihrer geheimnisvollen und dennoch bezaubernden Schönheit Achtung erweisen, denn diese Schönheit ist keineswegs selbstverständlich, sondern spiegelt das Leben aller Menschen, die hier am Fuße des Lausitzer Gebirges leben, wider.